Vortex
Es
wirkt, als hätte Gaspar Noé endlich das Alter erreicht, in dem er
nicht mehr darauf setzt, mit seinen Filmen Skandale zu provozieren,
sondern jetzt auch ohne das Überschreiten ästhetischer Grenzen den
Nerv der Zuschauer trifft. Waren seine früheren Werke IRREVERSIBEL
(2002), LOVE (2015) oder CLIMAX (2018) vor allem darauf ausgelegt,
unbestritten wichtige Botschaften mittels expliziter Darstellung von
wahlweiser Gewalt, Sex oder Drogenexzessen, oder wie beim Letzteren
sogar einer Kombination aus alledem zu transportieren, schlägt er in
seinem neuen Werk VORTEX nun ruhigere Töne an und erreicht doch sein
Ziel, uns zur Beschäftigung mit einem alle betreffenden Thema zu
bringen.
Im
Abwärtsstrudel, wie man das lateinische Vortex ja auch übersetzen
kann, befindet sich hier schon seit geraumer Zeit das Zusammensein
der unbenannten Eheleute Sie (Françoise Lebrun) und Er (Dario
Argento), die mit inzwischen um die 80 ihr Leben in den Gängen ihrer
zugestellten Wohnung eher nebeneinanderher als gemeinsam gestalten.
Man könnte meinen, dies läge ausschließlich an Ihr, die beim
schier unendlichen, ziellosen Umherirren im kleinbürgerlichen
Pariser Viertel nicht mehr ganz Herr ihrer Sinne ist. Während Er mal
wieder alle Hände voll zu tun hat, Sie zu finden und wieder
wohlbehalten in den Schutz der eigenen vier Wände zurückzubringen.
Doch auch Er hat definitiv seinen Anteil daran, hat mit einer
Besserung Ihres Zustandes offensichtlich abgeschlossen und lebt als
einst angesehener Filmkritiker in seiner eigenen Welt, die sich
allein um die Arbeit an einem neuen Buch über die Träume im Kino
dreht.
Hautnah
nimmt man Seine wachsende Verzweiflung wahr, wenn Ihre
fortschreitende Demenz Sie urplötzlich zum Aufräumen antreibt, dem
auch das Manuskript Seines jüngeren Lebensinhalts zum Opfer fällt,
oder Sie einfach gedankenlos die Gashähne aufdreht. Gleichzeitig
entwickelt man enormes Mitleid mit Ihr, deren Bewusstseinsverlust
Françoise Lebrun mit ihrem minimalistischen, fast ausdruckslosen
Spiel erst ein plastisches Gesicht verleiht.
Das
alles packt Noé in für ihn ungeahnt ruhige Einstellungen, in die er
durch den Splitscreen noch dazu eine überaus spannende neue Ebene
einzieht, die dem Betrachter jederzeit einen individuellen
Perspektivwechsel ermöglicht. Mit VORTEX gelingt Noé ein
skandalfreier, hoch emotionaler Blick auf eine fürchterliche
Krankheit, dem man fast genauso hilflos folgt wie sein Protagonist,
dem sein früheres Leben durch die Finger rinnt. Und der, wie er es
selbst ausdrückt, „denjenigen gewidmet ist, deren Hirn vor ihrem
Herzen zerfällt“.